Der fremde Besucher

Ein kalter Wind fährt durch die kahlen Zweige. Irgendwo raschelt es. Zwischen den grauen Schatten des Gartens erklingt plötzlich eine tiefe Stimme – ruhig, aber gedrängt. Emmy hält den Atem an und duckt sich hinter einen Baum. Von dort aus kann sie sehen, wie ein Mann mit Ben Lindner spricht. Der Fremde vom Keksfest!

Seine Hände bewegen sich unruhig, die Worte klingen ernst. Dann, so plötzlich wie er erschienen ist, dreht er sich um und verschwindet in der hereinbrechenden Dämmerung.

Emmy tritt hervor, das Herz bis zum Hals schlagend. „Ben, wer war das?“ fragt sie hastig. „Ich hab ihn beim Keksfest gesehen – er gehört doch gar nicht ins Dorf, oder?“

Ben blinzelt überrascht. „Oh, das war nur Herr Altenberg“, erklärt er ruhig. „Er hilft uns manchmal im Garten, wenn mein Vater keine Zeit hat.“

Emmy zögert, dann zieht sie einen kleinen Schlüssel aus ihrer linken Jackentasche. „Den hier hab ich beim Keksfest gefunden. Genau da, wo der fremde Mann stand.“ Ihre Augen blitzen neugierig. „Ich dachte schon, vielleicht gehört er zu einem geheimen Versteck – oder sogar zu dem Ort, wo der Weihnachtsstern eingeschlossen ist!“

Ben hebt kurz die Augenbrauen, dann breitet sich ein warmes, geduldiges Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Das ist wirklich eine gute Theorie“, sagt er freundlich, „aber der Schlüssel gehört mir.“

„Dir?“ fragt Emmy erstaunt.

„Ja,“ erklärt Ben, „das ist der Schlüssel zu unserer Garage. Da stehen die Gartengeräte drin. Ich hab ihn Herrn Altenberg gegeben, damit er beim Aufräumen helfen kann. Wahrscheinlich ist er ihm einfach runtergefallen.“

Emmy betrachtet den kleinen Schlüssel in ihrer Hand – für einen Moment scheint er doch ein wenig magisch. Dann lacht sie leise. „Also kein Geheimversteck?“

Ben schüttelt den Kopf, das Lächeln noch immer auf den Lippen. „Nicht jeder Schlüssel öffnet ein Rätsel, Emmy. Manche nur eine Tür zu ganz normalen Dingen.“

Für einen Augenblick ist die Stimmung leicht, fast warm – bis Emmy im Augenwinkel eine Bewegung bemerkt.

Am Zaun steht Herr Schwarz. Regungslos. Sein Blick haftet an ihnen, dunkel und prüfend. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Vielleicht war der Schlüssel harmlos.

Doch irgendetwas im kalten Abendwind flüstert ihr zu, dass noch nicht alles gesagt ist.

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