Zweifel

Der 16. Dezember lag wie ein klarer, kühler Schleier über dem Dorf. In der Schule konnte Emmy ihre Gedanken kaum bei den Aufgaben halten. Immer wieder kehrte ihr Kopf zu dem Gespräch zurück, das sie gestern mit Sophie geführt hatte. Die Vorstellung, die Familie Lindner könnte ihren Weihnachtsstern womöglich selbst verkauft haben, nagte an ihr wie ein kleiner, hartnäckiger Stachel.

In der großen Pause suchte Emmy erneut das Gespräch. Auf einer Bank im Schulhof, mit dem Atem sichtbar in der kalten Luft, fragte sie leise: „Glaubst du wirklich, dass die Lindners so etwas tun würden? Den Stern heimlich verkaufen – nur aus Geldsorgen?“

Sophie zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber es wäre eine Erklärung dafür, warum wir ihn bisher nicht gefunden haben. Vielleicht hatten sie keine andere Wahl.“

Emmy runzelte die Stirn. „Wenn das stimmt, müsste der Stern doch irgendwo aufgetaucht sein. Vielleicht bei einem Händler, oder … in diesem kleinen Antiquitätenladen am Dorfrand. Dort gibt es doch viele alte Weihnachtsstücke.“

Sophies Augen blitzten neugierig. „Genau! Vielleicht sollten wir dort nachsehen.“

Nach der Schule fasste Emmy den Entschluss, allein dorthin zu gehen. Der Weg führte sie durch verschneite Gassen, bis sie schließlich vor dem alten, rustikalem Laden stand. Ein kleines Glöckchen über der Tür klingelte, als sie eintrat. Der vertraute Duft von Holz und Staub, vermischt mit dem Schimmer unzähliger Dekostücke, hüllte sie sofort in eine geheimnisvolle Stimmung.

Hinter dem Tresen saß die alte Dame, die den Laden führte. Sie hob den Kopf, als Emmy näher trat.[ „Guten Tag“, sagte Emmy höflich. „Ich war vor kurzem schon einmal hier. Haben Sie vielleicht neue Stücke bekommen? Besonders wertvolle?“

Die Frau lächelte mild, doch ihre Augen wirkten prüfend. „Was genau suchst du, mein Kind?“

Emmy holte tief Luft. „Es geht um einen Weihnachtsstern. Ein Erbstück, das verschwunden ist. Ich dachte, vielleicht hätte jemand versucht, ihn hier zu verkaufen.“

Die alte Dame schwieg einen Moment, ehe sie den Kopf schüttelte. „Nein … so ein Stück habe ich nicht gesehen. Aber ich werde meine Augen offenhalten. Manchmal tauchen Dinge auf, wenn man es am wenigsten erwartet.“

Mit einem leisen Klingeln der Türglocke verließ Emmy den Laden. Draußen schlug ihr die Kälte entgegen, doch es war weniger der Frost, der sie frösteln ließ, sondern das Gefühl, dass die Dame mehr wusste, als sie preisgegeben hatte.

Auf dem Heimweg zog sich der Himmel langsam grau zu und die Kälte kroch durch ihren Mantel. Emmy zog den Schal enger um den Hals. Die Spur war noch nicht kalt – da war sie sich sicher. Doch wie sollte sie allein dahinterkommen …

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