
Dieser wundervolle Morgen empfängt Emmy mit klarer Winterluft, die ihr in die Wangen beißt. Über den schneebedeckten Dächern spannt sich ein helles Blau, das nach dem wilden Sturm der letzten Nacht fast unwirklich friedlich wirkt. Das Dorf liegt still und glitzernd unter einer frischen Schneedecke, als hätte der Winter alles mit einem funkelnden Tuch zugedeckt. Auf dem Heimweg von der Schule zieht Emmy den Schal fester um sich und pustet kleine weiße Wölkchen in die klare Luft – jeder Atemzug eine Erinnerung daran, wie lebendig und kalt dieser Wintertag ist.
Aus der Ferne klingen Musik und Stimmen vom Weihnachtsmarkt herüber, vermischt mit dem Duft von gebrannten Mandeln und Tannengrün. Fast von selbst tragen Emmys Schritte sie dorthin. Der Markt strahlt im Abendlicht wie eine kleine Zauberwelt: Lichterketten funkeln, Kinder lachen, Händler rufen ihre Angebote und für einen Moment vergisst Emmy das Rätsel, das sie beschäftigt.
Doch dann bleibt ihr Herz abrupt stehen. Im Stimmengewirr fängt sie ein einziges Wort auf: „Weihnachtsstern.“ Es hallt in ihrem Kopf nach wie ein Alarmsignal. Sie bleibt stehen und lauscht. Zwei Frauen unterhalten sich am Rand der Stände, ihre Köpfe dicht beieinander. „Hast du das schon gehört?“, flüstert die eine aufgeregt. „Es heißt, die Lindners hätten den Stern versteckt.“
„Ja“, entgegnet ein Mann, der dazutritt, „man munkelt sogar, sie hätten ihn verkauft. Wegen Geldsorgen.“
Emmy spürt, wie ihr Magen sich verkrampft. Diese Gerüchte? Woher kommen sie? Ihr Herz rast. Sie denkt sofort an ihr Gespräch mit Sophie. Hatten sie unbedacht zu laut spekuliert? Sie hatten doch nur versucht, eine mögliche Erklärung zu finden … eine spielerische Theorie, wie Detektive sie eben aufstellen. Aber jetzt?
Jetzt wird daraus ein böses Gerücht, das sich im Dorf verbreitet wie ein Lauffeuer.
„Eine Lehrerin hat das erzählt“, fügt eine der Frauen hinzu. „Sie hat die Mädchen auf dem Schulhof reden hören. Offenbar wissen die Kinder mehr, als sie zugeben.“
Emmys Kehle schnürt sich zu. Nie hatte sie gewollt, dass jemand dadurch in Schwierigkeiten gerät – schon gar nicht die Familie Lindner. Das Rätsel um den Weihnachtsstern war schon schwer genug, doch nun droht den Lindners auch noch der Verdacht ihrer Nachbarn.
Einen Moment lang will Emmy vortreten, die Gerüchte richtigstellen, alles erklären. Aber ihre Füße bleiben wie angewurzelt. Was könnte sie schon sagen? Die Worte sind längst fortgetragen und niemand weiß, wie weit sie schon geflogen sind.[ Mit gesenktem Kopf wendet sie sich ab. Die funkelnden Lichter des Marktes wirken plötzlich weniger fröhlich, die Musik klingt gedämpft. Emmy spürt nur ein drückendes Gewicht auf ihrem Herzen.
Der Stern ist noch immer verschwunden – und nun gibt es ein neues Problem. Die Gerüchte dürfen nicht weiterwachsen. Aber wie soll Emmy das verhindern?
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