Ein Missverständnis

Die Unruhe in der Schule hat ihren Höhepunkt erreicht. Wie kleine Funken, die von Tisch zu Tisch springen, flackern die Gerüchte über den verschwundenen Weihnachtsstern durch die Gänge. Manche Kinder sind überzeugt: Nicht nur die Lindners, auch der mürrische Herr Schwarz müsse in die Sache verwickelt sein.

„Er ist immer so seltsam! Bestimmt steckt er mit ihnen unter einer Decke!“, flüstern sie mit leuchtenden Augen.

Doch das Tuscheln bleibt nicht unbemerkt. Die Lehrerin legt die Kreide beiseite, verschränkt die Arme. „Was geht hier vor!?“, fragt sie streng und ihre Stimme hallt klar durch den Raum. Augenblicklich verstummt die Klasse.

Nur ein Junge platzt heraus: „Die Lindners haben den Stern absichtlich versteckt und Herr Schwarz hilft ihnen dabei! Das sagen alle!“

Emmy spürt, wie ihr Herz schneller schlägt. Genug ist genug. Mit einem Ruck steht sie auf, die Stimme fester, als sie erwartet hatte: „Das stimmt nicht!“ ruft sie. „Es war nur eine Idee von Sophie und mir. Wir haben gerätselt, weil wir nicht wussten, wer den Stern genommen haben könnte. Aber wir wollten keine Gerüchte – wirklich nicht!“

Einen Moment lang herrscht Stille. Dann nickt die Lehrerin langsam. Ihr Blick bleibt ernst, doch ihre Stimme wird weicher. „Ich danke dir, Emmy. Das war mutig.“

Kurz darauf sitzen Emmy und Sophie mit gesenktem Blick im Lehrerzimmer, während ihre Eltern hinzukommen. Sophies Mutter erklärt ruhig, dass alles ein Missverständnis war – ein falsch verstandenes Gespräch unter Erwachsenen, das sich verselbstständigt hatte. „Die Lindners haben keinerlei Sorgen“, sagt sie sanft. „Nur die Gerüchte haben sie hineingezogen.“

Wie ein Sturm, der sich legt, fällt Stille über die Schule. Einige Kinder senken beschämt den Kopf, andere schauen verlegen zur Seite.

„Ihr seht, wie schnell ein Wort zu viel wachsen kann“, sagt die Lehrerin schließlich, „und wie wichtig es ist, die Wahrheit zu prüfen, bevor man sie weitersagt.“ Als die Schulglocke später erklingt, strömen die Kinder hinaus in den kalten Nachmittag. Schneeflocken tanzen über den Hof, der Himmel glüht roséfarben und die Luft riecht nach Winter und Holzrauch.

Emmy bleibt einen Moment stehen. Erleichterung breitet sich in ihr aus – und doch auch ein Rest Nachdenklichkeit. Die Gerüchte sind verstummt, aber das Rätsel um den Weihnachtsstern bleibt.

Sie zieht ihren Schal enger, sieht drüben auf dem Marktplatz Lichter glitzern. Musik schwingt in der Luft, gedämpft, aber fröhlich. Ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Vielleicht… nur ein kurzer Abstecher“, murmelt sie leise.

Und während ihre Schritte durch den Schnee führen, folgt sie dem Klang der Musik – dorthin, wo das Herz des Dorfes leuchtet

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