Der mürrische Nachbar

Noch ehe die Sonne aufgeht, findet Emmy einen besonderen Zauber vor ihrer Tür. In dem Stiefel, den sie am Vorabend sorgfältig geputzt hatte, funkeln kleine Überraschungen: ein Beutelchen mit Nüssen, ein paar süße Leckereien und eine winzige Mandarine, deren Duft den ganzen Flur erfüllt. Mit klopfendem Herzen hebt sie die Schätze heraus. Für einen Augenblick fühlt sich alles leicht und unbeschwert an – so, wie es an Nikolaus sein soll.

Doch der verschwundene Weihnachtsstern bleibt in ihrem Hinterkopf. Sogar in der Schule ist er Gesprächsthema Nummer eins. In den Pausen bilden sich kleine Grüppchen, die leise tuscheln und Vermutungen austauschen. „Vielleicht war es jemand von außerhalb …“, meint ein Junge leise. „Oder einer von uns?“, flüstert ein anderes Kind. Emmy lauscht still, während sie versucht, Fakten von bloßen Gerüchten zu trennen. Das Geheimnis liegt wie ein unsichtbarer Schleier über der ganzen Gemeinde und Emmy spürt, wie sehr ihre Ermittlungen nun Gewicht bekommen.

Am Nachmittag zieht es sie wieder auf den Weihnachtsmarkt. Heute herrscht dort ein besonderes Treiben: Zwischen den Ständen hat sich der Nikolaus niedergelassen. Mit rotem Mantel, funkelndem Gürtel und einem langen weißen Bart sitzt er inmitten einer Schar fröhlicher Kinder. Lachen, Glöckchenklang und das Rascheln von Geschenkpapier erfüllen die Luft. Geduldig hört er sich die Wünsche an, verteilt kleine Leckereien und schenkt jedem Kind ein warmes Lächeln.

Emmy drängt sich ein Stück näher. Mit dem Heft fest an ihre Seite gedrückt, nimmt sie all ihren Mut zusammen. „Hallo, Nikolaus“, sagt sie klar und entschlossen. „Hast du vielleicht etwas über den verschwundenen Weihnachtsstern gehört? Es wäre wunderbar, wenn du uns bei der Suche helfen könntest.“

Für einen Moment wird es still um sie. Der Nikolaus schaut sie ernst an, seine Augen blitzen hinter dem weißen Bart hervor. „Ja, liebes Kind,“ sagt er bedächtig, „ich habe schon viel über den Stern gehört. Er ist mehr als Schmuck – er gehört zu eurer Tradition. Ich verstehe, wie sehr er euch fehlt. Leider habe ich ihn nicht gesehen …“ Seine Stimme senkt sich ein wenig, fast geheimnisvoll. „Doch ich verspreche dir: Ich werde aufmerksam sein. Vielleicht trägt schon jemand ein Wissen in sich, das bald ans Licht kommt.“

Diese Worte wärmen Emmy wie ein kleines Licht in der Dunkelheit. Um sie herum summt und lacht das Dorf, doch sie spürt, dass hinter all dem Festlichen eine gemeinsame Sorge lebt. Immer wieder fällt in den Gesprächen, die der Nikolaus anregt, der Name des Sterns. Fremde und Freunde stehen zusammen, tauschen Erinnerungen und Vermutungen. Der Markt verwandelt sich in einen Ort der Hoffnung, als wollte das ganze Dorf mit vereinten Kräften das Rätsel lösen.

Als die Lichter später golden in den Schnee glitzern und der Abend stiller wird, macht sich Emmy auf den Heimweg. Sie hat an diesem Nikolaustag keine neue Spur gefunden – aber sie weiß nun, dass sie nicht allein ist. Das Dorf steht hinter ihr. Und das gibt ihr Kraft für die nächsten Schritte.

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