Es ist ein klarer Wintermorgen im Dorf. Die Sonne wirft goldenes Licht über die verschneiten Dächer des Dorfes und überall steigt Rauch aus den Schornsteinen. Ein Hauch von Feierlichkeit liegt in der Luft – heute soll der große Tannenbaum im Vorgarten der Lindners geschmückt werden. Seit Generationen ist dieser Tag der Auftakt in die Adventszeit, ein Höhepunkt, auf den Nachbarn und Freunde gleichermaßen warten.
Ben Lindner hat sich extra freigenommen. Schon früh am Morgen holt er aus dem alten Keller die Kisten mit dem Baumschmuck hervor. Vorsichtig pustet er den Staub von den Deckeln und trägt sie hinaus in den Vorgarten. Der mächtige Tannenbaum steht dort wie ein Wächter des Winters, bereit, im Glanz der kommenden Stunden zu erstrahlen.
Drinnen ist die Stimmung ebenso festlich: Frau Lindner stellt Tassen für den heißen Punsch bereit, die Kinder helfen beim Verteilen von Keksen und kleinen Leckereien. Alles ist liebevoll vorbereitet – nicht nur für die Familie, sondern auch für die Nachbarn, die bald dazustoßen werden. Gegen Mittag füllt sich der Vorgarten mit Leben. Kinder tollen durch den Schnee, ihre Wangen gerötet vor Kälte und Vorfreude. Erwachsene bleiben plaudernd stehen, lachen, stoßen mit dampfenden Bechern an und hängen gemeinsam Schmuck an die Zweige. Immer mehr Menschen lassen sich vom Duft des Punschs und der ausgelassenen Stimmung anziehen und der Baum beginnt, sein festliches Kleid zu tragen.
Dann geschieht es. Ein spitzer Schrei zerreißt das fröhliche Treiben. Alles verstummt, Köpfe drehen sich erschrocken um.
Emmy Winter, das Nachbarskind, stürzt heran. Ihr Atem geht hastig, ihre Augen glänzen vor Panik. „Herr Lindner!“ ruft sie außer sich. „Der Weihnachtsstern – er ist weg! Er ist verschwunden!“ Einen Herzschlag lang liegt Stille über dem Platz, so dicht, dass man den Schnee fallen hört. Ben dreht sich abrupt um, seine Miene entgleitet. „Was!?“ stößt er hervor, als könne er die Worte nicht begreifen. Mit schnellen Schritten eilt er zum Tisch, auf dem das wertvolle Stück eben noch gelegen hat. Leere.
„Das… das kann nicht sein,“ murmelt er, während seine Hand über das blanke Holz fährt, als müsse er sich vergewissern. „Dieser Stern bedeutet uns so viel – nicht nur uns, sondern dem ganzen Dorf.“ Seine Stimme bricht beinahe.
Ein aufgeregtes Murmeln geht durch die Menge. Der festliche Zauber ist wie ausgelöscht, ersetzt durch Unruhe und Beklemmung. Kinder klammern sich an ihre Eltern, Erwachsene tauschen fragende Blicke. Ben kniet nieder, sucht fieberhaft den Boden ab, tastet zwischen Zweigen und Schnee. Doch der Stern bleibt verschwunden – spurlos.
Der Verlust lastet schwer auf allen und mit jeder Minute wächst die Spannung: Wie konnte ein so bedeutsames Stück plötzlich verschwinden?
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